Nahtlos reiht Winston sich in die Menge ein. Der Pranger am Platz ist jetzt leer: Winston wünscht dem Männchen, das dort stand, dass es von seiner Zugehörigkeitsgöttin wieder genommen wurde. Wenn nicht... Winston weiß nicht, was geschieht, wenn Männchen das Unnennbare Halsband bekommen. Das sind die Dinge, die man besser nicht denkt.
Und wie das gestunken hat! Und wie diese Haare sich kräuselten! Zu denken, dass das vor Generationen normal war: Wie müssen die Menschen gestunken haben! Was für ein Ekel muss diese Brutalzeit durchzogen haben. Männchen ohne Ganzkörperwachsung. Behaarte Achseln, behaarte Beine, behaart auch da unten dazwischen... Winston, sagt seine Mutter immer, du grübelst zu viel. Früher hat Winston die Ganzkörperwachsung immer am Montag durchgeführt, aber seit Bernadette ihn am Mittwoch sehen will, hält er das Ritual lieber dienstags ab.
Die Ampel ist rot. Von der Figur in dem Lichtkreis geht eine beruhigende Wirkung aus.
Auf der anderen Straßenseite sieht Winston ein Plakat: ein Halbnackter ist da, mit wunderschön glatter, gerundeter Muskelbrust, und hinter ihm eine riesige Schlange, die das Männchen am Kopf packen wird. Die Schlange bewirkt in Winston sofort einen Reflex aus Ekel und Angst: soweit er es weiß, hat er immer schon Schlangen gefürchtet, wie Spinnen und Hunde. Als wären Bilder von gefährlichen Tieren aus frühester Zeit in ihn eingegraben. Das Männchen auf dem Plakat, hoffnungsvoll hält es den Blick auf die große Parfumflasche in seiner Hand: "Safety" sagt die Marke. Winston spürt einen Impuls, sie zu kaufen. Leider hat er im Augenblick nicht das Geld. Hyazinthe, denkt Winston, hoffentlich ist Hyazinthe drin. Sofort denkt er an Bernadettes Körperduft, der ihn letzten Mittwoch wie vor einer unermesslichen Zeit so heftig und stark umfing; er denkt an den Hauch ihrer Göttlichkeit, den er zur Belohnung in Mund und Nase bekam. Er denkt sich, dass er all das nicht verdient, und er fragt sich, ob dieses warme Gefühl, das er in Bauch und Brust hat, das sich langsam ausbreitet und jede Pore, jede Faser erfüllt, ob das Liebe ist.
Aber ist Winston zu echter, großer, dem Wahnsinn naher Liebe fähig? Zu einer Liebe, die Mark und Bein erschüttert, die durch und durch geht, die ihn Aufewigdein sagen lässt? Ist die Tiefe der Sehnsucht seiner Seele ermesslich? Oder kann er am Ende nur tun, was sein Körper ihm einflüstert?
Er denkt daran, wie Bernadette ihn ansprach.
Sie tat es so sanft, so selbstverständlich. Und doch auch so kraftvoll, so weiblich, so fest. Im Blumengeschäft stand sie hinter ihm, und dann hielt sie ihm eine Rose hin.
"Was...?" fragte er, und er erschrak über die eigene Frechheit.
"Was ich will?" wiederholte sie seine Gedanken, als hätte sie sie gelesen. "Ich werde dir eine Blume schenken - und vielleicht werde ich dich damit verführen. Wer weiß?"
Sie spielte ein Spiel mit ihm, und es fühlte sich so gut an: Gut und entsetzlich und unentrinnbar. Sie sagte ihm, dass er jederzeit Stopp sagen könnte - jetzt jedenfalls noch. Sie fragte ihn, ob sie aufhören sollte. Und dann berührte sie ihn wieder, ein wenig gewagter, und fragte ihn wieder.
Winston sagte nie Stopp. Vielleicht hätte ein gutes Männchen sich ihr verweigert. Vielleicht ist er schmutzig, weil er es nicht tat?
Es ist so verwirrend. Und er sehnt sich so sehr nach Bernadette.
"Warum wollten Sie mich eigentlich?" hat er sie einmal gefragt.
"Viele Göttinnen wollen dich." Sie hat gelacht und ihm einen Nasenstüber versetzt. "Weil du so süß bist. Außerdem hast du den Gehorsam in deinen Augen... und auch den Schalk!"
Winston lächelt, dann seufzt er.
Morgen muss er noch durchstehen, und übermorgen den Tag bis zum Abend - es erscheint ihm im Moment vollkommen unmöglich. Und dass Frau Doktor Schreier jetzt herrscht, macht Winstons Gefühle nicht angenehmer. Er denkt an sie, und er fühlt sich beeindruckt. Und er fühlt wieder die Kribbeligkeit, das heftige heiße Ziehen in seinen Lenden. Nein, denkt Winston, ich bin liebesunfähig. Ich denke an Bernadette, und ich denke gleich wieder an eine andere Göttin. Was bin ich nur für ein Männchen! Er legt alle Verachtung in dieses Wort. Ein Kinderlied fällt ihm ein: "Ein Männchen steht im Walde, dort steht es gut. Dort kann es auch nicht stören in seiner Wut..."
Wenigstens kann er in seinem Kellerabteil ein wenig Ruhe genießen. Das Haus bleibt ruhig und friedlich, seine Mutter hat heute kein Männchen bei sich. Winston putzt sich die Zähne und legt den Zahnkäfig bereit. Er liest noch ein Buch, einen freundlichen Liebesroman über eine Ärztin, die einen Rechtsanwaltsgehilfen heiratet, der zwar nicht sehr klug, aber sehr süß ist. Er geht noch einmal aufs Klo, legt sich den Zahnkäfig an das Peewee, wobei er sorgfältig achtgibt, das Peewee nicht mit der Hand zu berühren. Dann schläft er ein, die Hände brav auf der Decke, voller Sehnsucht und Sorge und Hoffnung.