Die Sybille

oder
Parasepiden

Teil 5

Während ich frierend gegen den Wind stand, überredete ich Michael, die Haustür zu öffnen. Das Stiegenhaus blieb dunkel: Das Zeitlicht war ausgefallen, schon seit ich Michael kannte. Auf dem Weg hinauf dachte ich wieder nach. Aber wozu sollten sie sich die Mühe machen? Sie sahen dann selbst nichts. Außerdem war nicht abzusehen gewesen, daß Michael so viele Jahre in seinem Einzimmerloch wohnen würde. Vielleicht verfügten sie über ein Zaubergerät, das die Dunkelheit leuchten ließ. Das waren kleine, flüchtige Gedanken, die sich über die Zeit verselbständigt hatten. Jeder Gang durch dies Stiegenhaus hatte den Verdacht gestärkt, geschwächt, ohne daß es mir selbst sonderlich aufgefallen wäre. Die Klingel an der Wohnungstür funktionierte, ihr Krächzen klang immer schon wie ein allerletzter Atemzug. Michael war unrasiert, und sein übler Atem verriet, daß er sich auch nicht die Zähne geputzt hatte, und er starrte mich an, und ich dachte, er hätte etwas zu sagen, was er nicht sagen würde, wollte, durfte, konnte.

Er nickte grüßend und zog sich in sein Arbeitswohnschlafzimmer zurück. Auf dem Sessel neben dem Sofa suhlte sich eine halbvolle Flasche Cognac im Staub. Ich streifte sie mit einem Blick, Michael sah mir tapfer ins Gesicht, und ich setzte mich vorsichtig auf einen dieser Klappersessel.

"Was ist los?" fragte ich ihn, in aller Direktheit, und sah ihn hart an.

Es gab keine Antwort.

"Was hat sie mit dir gemacht?" fragte ich ihn, nach einer Weile. Ich klang plötzlich weicher, sanfter, als ich sonst unter Liebedienern klang.

Es gab keine Antwort.

"Du warst plötzlich verschwunden...", sagte ich, und ein Vorwurf schlich sich leise in meine Stimme.

Er überwand sich. Seine Lippen bewegten sich lange wie im Krampf, lange ließ ich ihm Zeit, ließ er mich warten.

Wie hatte sie ihn verführt? Schwer hatte er es ihr nicht machen können. Ihr anschmiegsam gleitender Körper sprach für sich. Er fühlte Sybilles Blicke auf sich ruhen, gar nicht ablehnend, und als Maria ihm zuflüsterte, es sei in Ordnung, Sybille habe sie ja geschickt, oder ob er sich denn vorstellen könne, daß sie vor einem ungekrönten Haupt etwas tue, was ihr nicht aufgetragen worden sei? Auch er habe sicher schon einmal die Türen angestarrt, sicher nicht einmal. Ich nickte wie an seiner Statt, und er lächelte kurz. Hinter eine von diesen Türen werde sie ihn bald bringen, heute noch, bald. Da fühlte er, wie seine Augen feucht wurden. Da fühlte er ihre warme Berührung, und ihm schien, daß sie ihn Schritt vor Schritt näher an sich preßte, und meine Hose wölbte sich, und sie schien das zu merken, und es schien sie nicht unbedingt zu stören. Sie werde ihm endlich zeigen, worauf er schon so lange gewartet habe. Er werde sich ja diese Chance nicht entgehen lassen. Ich würde es ebensowenig.

Sie brauchte ihn nicht zu drängen. Als hätten beide nur auf diesen Abend gewartet, zog sie ihn mit sich in einen der Räume.

So etwas hatte er vorher noch nie gesehen. Ein Surren war da in der Luft. Es war heiß genug, um sich in unseren Kitteln sehr unwohl zu fühlen. Im harten Licht der Nachtlampe glänzte die Haut der Frau wie Schlangenschuppen. Sie hatte da sicher was draufgetan. Sein Blick war fragend. Sie legte ihm bedeutsam den Finger mit seinem sanften Duft nach Mädchenhaut quer über die Lippen.

Er verstummte und sah mich an, blickte nervös um sich. Ich nickte langsam. Die Türen waren nicht ohne Absicht verschlossen. Er brauchte es nicht auszusprechen. Jedes Wort, das ich ihm abhörte, vergrößerte die Gefahr. Aber jetzt war ich schon tief drin bis zum Heft, jetzt mußte ich es schon wirklich wissen.

Ich hing ihm an den Lippen wie an einem Strohhalm auf schwerer See.

Und ob er sich gewehrt hatte? Er nahm sich vor, sie zappeln zu lassen wie einen Fisch an der Leine. Er strampelte aber mit dem dringenden Verlangen, sie an sich und in ihr zu spüren, und hielt den Blick gebannt auf ihren rundlichen Leib gerichtet. Fleischig zeigten sich ihm ihre Oberarme, weich die Haut, die sich nach und nach aus dem dunklen Kleid schälte. Ihre vollkommen selbstverständliche Gelassenheit, aus dem rot auf dem Boden liegenden Stoff zu steigen, mit nackten Beinen auf den harten Fußboden niederzuknieen und fast zeitgleich etwas wie ein Kondompäckchen aus dem grauen Metallregal zu fischen, hielt Michael in starrem Erstaunen. Er wollte ihr die Packung aus der Hand nehmen aus purer Höflichkeit, da zog sie die Hand wie erschrocken zurück, das hätte ihm alles nicht geschehen dürfen, er hätte die Signale erkennen müssen.

Ob ich glauben könne, was sie da gesagt hatte, sodaß sein Blut mit allerletzter Kraft, einem Schuß wie aus einer Kanone auf einem Berg ihm ins Glied fuhr? Freilich wisse sie, habe sie gehaucht, von unten herab, an seinem bloßen Bauch, und ihr Atem beim Reden kitzelte seine Hauthärchen, daß er sich jetzt gleich vorstellen werde, es mit der Sybille selbst zu treiben, und das sollte ihn nicht beunruhigen, auch wenn diese Vorstellung durch das, was sie mit seinem armen Schwanz vorhabe, nur noch stärker werden würde. Für ihn sei sie heute Nacht die Sybille selbst, durch ihren Körper werde die Sybille seinen Männerleib spüren, durch ihren Mund werde er in die Sybille dringen und durch ihre wunde Kehle in den Unterleib der Sybille seinen kostbaren Samen verspritzen. Und, ob ich das glauben könne.

Er hielt inne.

Ich holte zur Antwort aus, ich hatte genug gehört und viel mehr als genug, ich wollte nur heim und mich waschen. Er legte sich den Finger über die Lippen: "Hörst du das?"

"Nein, was?"

Da drängte er mich schon gegen den Schrank, "Tut mir leid!" flüsterte er, und ich stand mitten im Dunkeln. Ein Schlüssel drehte sich in der Tür.

< vorherige Seite
nächste Seite >